Wer kennt das nicht: auf jemanden zu treffen, der uns eigentlich fremd ist, es in der Regel auch geblieben wäre, wenn es nicht eine Gemeinsamkeit gäbe, die den Fremden näher rückt, bedeutsam macht, so dass wir ihm schließlich unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse schenken? Wenn Ehemalige an ihre alte Schule kommen, die sie seit Jahren, gar Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben, ist das Gemeinsame zwischen ihnen und den heutigen Schülerinnen und Schülern die Schule selbst, zuvörderst vielleicht sogar das Schulhaus, das man – trotz mancherlei Veränderung – gemeinsam kennt und als seine, die eigene Schule ansieht. Im Jubiläumsjahr wie dem der 100-Jahrfeier unseres Schulhauses am Lohwasen bietet es sich geradezu an, Schülerinnen und Schüler von heute mit ehemaligen Georgianern zusammenzubringen und diese von ihrem Beruf berichten und über ihre Person erzählen zu lassen. So wird gewissermaßen ein Blick in die Vergangenheit geworfen und eine Perspektive auf Möglichkeiten in der Zukunft eröffnet.
Cora Dietl hat 1986 am Georgii-Gymnasium Abitur gemacht und ist nun Professorin für deutsche Literaturgeschichte mit Schwerpunt Mittelalter / Frühe Neuzeit an der Universität Gießen. Wenn sie den Schülerinnen und Schülern Einblick in ihr Fachgebiet gewährt, merkt man sofort, wie viel Engagement hinter ihrem Forschen und Lehren steht, nicht nur in der unverkennbar sicheren Beherrschung des immensen Stoffs und dem mühelosen Überblick, den sie ihren Zuhörern geben kann, sondern auch in der Begeisterung, dem leidenschaftlichen Interesse an der Sache und zugleich dem nüchternen Forscherblick, der auf Klarheit und präzise Analyse gerichtet ist.
Bei ihrem Besuch am Georgii-Gymnasium hat Frau Professor Dietl den Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 12 den lächerlichen Helden vorgestellt, exemplifiziert an der Figur des Neidhart, wie ihn Hans Sachs in seinem Fastnachtsspiel „Der Neidhart mit dem Veilchen“ auf die Bühne bringt. Hans Sachs reiht sich in die Tradition der Neidhartspiele ein, an der er seinen Stoff gewinnt, lässt jedoch beide im Spiel auftretenden Personengruppen, die Bauern wie die Adeligen, gleichermaßen lächerlich erscheinen. Er gibt so seinem städtischen Publikum Gelegenheit, jene Stände zu verlachen, denen es nicht selbst angehört. Dass sich von diesem Stoff und seiner Ausgestaltung durch Hans Sachs Querverbindungen zu Friedrich Dürrenmatts tragischer Komödie „Der Besuch der alten Dame“ herstellen lassen, ist erstaunlich und dem geübten Blick des Fachmanns, respektive der Fachfrau vorbehalten. Wer sich mit der älteren Literatur intensiv beschäftigt, taucht eben nicht ein oder ab in eine längst vergessene Vergangenheit oder versinkt im Meer der Geschichte, im Gegenteil, ihm gehen Bezüge auf, die das Verständnis auch eines neueren Textes klären und bereichern. Ähnlich lächerlich gemacht und nicht als Identifikationsfiguren vorgestellt wie die Bauern und Adeligen im Fastnachtsspiel von Hans Sachs werden beispielsweise bei Dürrenmatt die Güllener Bürger. Und es geschieht mit vergleichbaren Mitteln der Komik, die Hans Sachs wie auch Friedrich Dürrenmatt anwenden, etwa der drastischen Darstellung von groteskem Verhalten. Dabei ist es insbesondere die Überzeichnung und Verzerrung, die beide Male auf die Zuschauer entlarvend wirkt.
Überraschende Gemeinsamkeiten aufzeigen und Zusammenhänge erkennen lassen, das war ein Ziel, das sich die Professorin bei ihrem Vortrag gesetzt hat, und sie hat damit ihr Thema aus der Literatur der frühen Neuzeit nahtlos an den Unterrichtsstoff des Deutschunterrichts der Kursstufe angebunden. Für viele ihrer Zuhörer war es überdies erstaunlich, wie klar Frau Dietl das frühe Neuhochdeutsch ausgesprochen und wie flüssig sie es gelesen hat. Hans Sachs‘ Sprache ist nicht mehr mittelhochdeutsch, genau genommen also nicht mittelalterlich, wie man zunächst vielleicht hätte meinen können. Sie kommt aus der gleichen Zeit, in der auch Luther lebte und schrieb. Frau Dietl ließ hören, wie das klingt, und übersetzte alles, was nicht gleich aus einmaligem Hören verständlich war, sofort in unser Neuhochdeutsch. Es zeigte sich, eigentlich lässt sich die Sprache des Fastnachtsspiels viel leichter sprechen und hören als lesen. Wer süddeutschen Dialekt spricht, etwa schwäbisch – wobei für das Verständnis des Textes von Hans Sachs fränkisch noch hilfreicher wäre – wird feststellen, dass diese Sprache unserer heutigen etwas dialektgefärbten süddeutschen Umgangssprache ziemlich verwandt ist. Beim Hören dieser Sprache fällt auf, sie ist durchaus fremd, dann aber doch nicht ganz so weit weg von uns wie zunächst angenommen.
Der Besuch von Frau Professor Dietl bot Abwechslung, etwa wenn sie von ihrem beruflichen Werdegang erzählte oder wenn sie ihre Art an für ihre Forschung wichtige alte Texte zu gelangen erläuterte. Ihr Vortrag war für alle Zuhörer eine Bereicherung und regte im Anschluss an das Gehörte zu spielerisch-kreativer Umsetzung an. Die Schülerinnen und Schüler schlossen sich in Gruppen zu Übungen im Umgang mit Komik zusammen und sollten – in freier und lockerer Anlehnung an Hans Sachs und Friedrich Dürrenmatt – Einfälle komischer Art kreieren und szenisch ausprobieren. Wer weiß, vielleicht wird aus der einen oder anderen Idee noch ein eigenes, vorzeigbares Spiel, das mit den Mitteln der Komik, die zielsicher eingesetzt sind, Lachen freisetzt.