Stolperstein Georg und Anne Liebel

Familie Liebel, Silcherstraße 11

„In memory of our dear parents...“ - mit einem Gedenkstein auf dem Ebershaldenfriedhof erinnern Georg und Anne in englischer Sprache an ihre 1942 ermordeten Eltern. Beide Kinder wuchsen in Esslingen auf und mussten dennoch vor rassistischer Verfolgung durch die Nationalsozialisten aus ihrer Heimat fliehen. Solche Anstöße veranlassten Schülerinnen und Schüler des Georgii- und des Mörike-Gymnasiums, in zwei Projekten das Schicksal der beiden ehemaligen Mitschüler zu erforschen und mit Stolpersteinen vor den Schulen die Erinnerung an sie wach zu halten - auch als Mahnung gegen rassistische Ausgrenzung und Verfolgung in Gegenwart und Zukunft.
Gemeinsam mit DENK-ZEICHEN wird der ganzen Familie gedacht.

Georg und Anne Liebel

Georg wurde, weil der Vater als österreichischer Offizier zum Kriegsdienst eingezogen war, 1916 in Wien geboren; bei Annes Geburt 1920 lebten die Liebels bereits wieder in Esslingen. 1929 erhielten sie die württembergische Staatsangehörigkeit. Beide Kinder nahmen in der Schule am evangelischen Religionsunterricht teil und wurden in der heutigen Johanneskirche konfirmiert. Sie lebten, wie es damals in Folge von Aufklärung und Säkularisierung nicht selten vorkam, assimiliert und integriert in die Esslinger Gesellschaft. So stand in der bildungsbürgerlichen Familie Liebel  die Hausmusik hoch im Kurs: Vater Viktor spielte Violine; Georg spielte als Cellist in der Spielgruppe des Esslinger Kammerchores unter der Leitung von H. Bornefeld. Georg trat 1927 ins spätere Georgii-Gymnasium ein und legte dort 1936 erfolgreich das Abitur ab. Anne besuchte von 1930 bis 1936 die Mädchen-Realschule im heutigen Mörike-Gymnasium. Nach dem Schulabschluss schickten die Eltern sie zu nach England. Mutter Julie riet ihr, nicht zurückzukehren, da die Lage in Deutschland zu gefährlich sei. 

In Georgs Schulakte findet sich nach 1933 schon bald ein erster Beleg der Ausgrenzung: Vermerk „nicht arisch“. Bei der Immatrikulation für Chemie an der TH Stuttgart wurde er 1936 zwar als Sohn eines „Frontkämpfers“ und als „evangelischer Deutscher“ registriert, zugleich aber auf einer rassistisch eindeutigen gelben Karte erfasst: „Volkszugehörigkeit: Jude“. Bereits im Juni 1938 duldete die NS-Studentenschaft solche Kommilitonen nicht mehr: er wurde mitten im 5. Semester „gestrichen weil Jude“. Im März 1939 konnte „Georg Israel Liebel“ mit einem Studenten-Visum ebenfalls nach England fliehen. An der Universität Leeds setzte er sein Chemiestudium fort. Aber bereits im Mai 1940 wurde er zum zweiten Mal ein Opfer des Nationalsozialismus: er wurde als Ausländer interniert und im Juli nach Kanada deportiert. Zwei Jahre musste er in Quebec in Kriegsgefangenschaft verbringen, und erst auf eine Intervention bei Premierminister Churchill hin wurden die jüdischen Flüchtlinge von den übrigen deutschen Kriegsgefangenen getrennt.
Anne arbeitete zunächst in einer Fabrik in Leeds und besuchte nebenbei eine Abendschule, um das Abitur nachzuholen. Während des Krieges meldete sie sich freiwillig zum Zivildienst in der Britischen Armee; 1945 kam sie mit der Civil Censorship Division der US Army, die auch in England Personen mit Deutschkenntnissen gesucht hatte, nach Esslingen zurück. „Wo sind meine Eltern?“, fragte die 25-Jährige vergebens. Nach ihrer Rückkehr nach England im Jahr 1947 reiste sie kurz darauf 1948 in die USA aus. Georg blieb in Kanada und gründete mit seiner ebenfalls aus Deutschland geflohenen Frau Greta eine Familie; die deutsche Sprache  vermittelten sie ihren Kindern nicht mehr, denn für die Überlebenden war sie zur Sprache der Täter geworden. 

Viktor und Julie Liebel

In Nikolsburg in Mähren 1885 geboren, fand der junge Diplom-Ingenieur Viktor 1912 in der renommierten Maschinenfabrik Esslingen (ME) eine gut bezahlte und dann auch 27 Jahre währende Anstellung in der Brückenbau-Abteilung. 1913 ließen sich Viktor und die vier Jahre jüngere Julie Sussmann aus Niederösterreich  in der israelitischen Kultusgemeinde in Wien trauen. Ein Foto von 1914 zeigt das Paar, ihn in österreichischer Offiziersuniform samt Degen. Nach dem Weltkrieg wohnte die Familie zunächst in der Ottilienstraße und ab 1928 in der Silcherstraße. 
In den Akten der ME spielte die religiöse und ethnische Herkunft der Liebels keine Rolle; doch nach der vierwöchigen Inhaftierung Viktors als „jüdischer Schutzhäftling“ im KZ Dachau im Gefolge der  “Reichskristallnacht“ 1938 wurde der in der ME  sehr geschätzte Leiter der Offertabteilung auf politischen Druck hin entlassen. Anfang des Jahres 1939 mussten Viktor und Julie mit ihrem Sohn nach Stuttgart umziehen, zuerst in die Werastraße, 1941 dann in das „Judenhaus“ Urbanstraße 116. Der Ingenieur Liebel fand 1941 bei einem ihn schützenden Tiefbau-Unternehmer noch einmal  eine begrenzte Beschäftigung. Ausreisebemühungen der Eheleute in die USA scheiterten ebenso wie die nach England. Im März 1942 erhielten sie den Befehl zu ihrer Deportation nach Polen; zur Durchführung dieses zweiten Transports vom Stuttgarter Nordbahnhof aus zwang die Gestapo u.a. Theodor Rothschild als  Vertreter der Jüdischen Kultusvereinigung Württembergs. Es gibt Hinweise, dass Viktor und Julie ihrem Schicksal klar ins Auge sahen: Keiner der 278 Juden, die im April nach Izbica deportiert wurden, überlebte den Holocaust. Ein letztes Lebenszeichen, eine kurze und besorgte, vom Roten Kreuz nach England übermittelte Nachricht der Eltern an ihre Kinder, datiert vom 6. September 1942.
Vor der Deportation hatte Viktor seine Violine einer jungen Stuttgarter Geigerin geschenkt; diese gab sie 1945 an Anne zurück. Heute befindet sich das Instrument im Besitz seiner Urenkelin in den USA. 
Georg besuchte Esslingen wieder 1953, Anne 1984 - als ehemalige Mitbürgerin auf Einladung der Stadt.

Text: G. Eller, E. Kühnle.
Kapitel aus der Broschüre: „Esslinger Stolpersteine 2008“,  Hg. DENK-ZEICHEN Esslingen, Georgii- und Mörike-Gymnasium