"Ich vermisse meinen Bruder noch immer."

Boris Ledermann war noch keine 18, als er den Folgen der KZ-Haft erlag

Von Claudia Bitzer

Tamara Vermeulen ist 82 Jahre alt. Dennoch hat sie kürzlich erst zum zweiten Mal in ihrem Leben zum letzten Brief ihres Bruders Boris Ledermann gegriffen. In dem Schreiben vom September 1941 bedankt sich der 17-Jährige bei seiner Mutter Johanna für ihr Päckchen, das den von den unmenschlichen Haftbedingungen im KZ Breendonk Gezeichneten nach zwölf Tagen erreicht hatte. Dennoch „zeigte er sich nur erleichtert, dass es mir und meiner Mutter gut ging“, berichtet die Schwester. „Zwei Tage später, am 22. September 1941, starb er mutterseelenalleine im Lazarett in Antwerpen. Durch seinen Tod wurde mein Vater aus dem Wehrmachtlager Huy entlassen - am Geburtstag seines toten Sohns. Ich vermisse meinen Bruder noch immer.“

Schmerzhafte Erinnerungen
Nach umfangreichen Recherchen hatte der Historiker Ernst Kühnle, bis zu seiner Pensionierung im Sommer Geschichtslehrer am Esslinger Georgii-Gymnasium. die Schwester von Boris Ledermann im belgischen Tienen ausfindig gemacht und zur Gedenkfeier und Stolpersteinverlegung nach Esslingen eingeladen. Sieben Jahrzehnte lang war es Tamara Vermeulen geborene Ledermann unmöglich, sich mit den letzten Zeilen ihres Bruders auseinandersetzen. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen, zu belastend die Tatsache, selbst überlebt zu haben, während der Bruder dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer gefallen war. Dass sie die Vergangenheit jetzt nach aufwühlenden Wochen wieder an sich heranlassen konnte, hat ihr geholfen, für sich selbst ein Stück weit ihren Frieden damit machen zu können. Das sagt sie jedenfalls.
So hat sie gestern den Schülerinnen und Schülern des Georgii-Gymnasiums auf bewegende Art und Weise ihren Bruder Boris nahe gebracht, der von 1934 bis 1939 am Lohwasen gelernt hat. „Er war einer von uns“, nahm ihn Schulleiter Joachim Scheffzek ausdrücklich in die Mitte der Schulgemeinschaft. Aber als Sohn eines gebürtigen Russen mit jüdischer Abstammung war er seinerzeit aus der Gesellschaft der selbst ernannten Herrenmenschen „aussortiert“ und ihnen damit „ausgeliefert“. Und das, obwohl er eine deutsche Mutter mit evangelischer Konfession hatte. Und das, obwohl er selbst getauft und 1938 in der heutigen Johanneskirche konfirmiert worden war.
Boris Ledermann wurde am 16. Oktober 1923 in Stuttgart geboren, seit 1922 lebten seine Eltern Moisey und Johanna Elise Ledermann mit ihren beiden Kindern in Esslingen - zuletzt in der damaligen Ottilien-Straße 17 , der heutigen Richard-Hirschmann Straße. Dank Fotos, Bildern und Zeichnungen aus dem Besitz der Familie konnte die Geschichts-AG des Georgii-Gymnasiums ein lebendiges Bild des jungen Boris zeichnen, der als ruhiger, zurückhaltender und gut integrierter Schüler galt. 1938 wurde sein Vater „aus dem deutschen Volkskörper ausgeschlossen“, obwohl er nicht (mehr?) zur jüdischen Gemeinde zählte, und musste nach Belgien ausreisen. Seine Familie durfte ihm vorerst nicht folgen. Am 31. März 1939 trat Sohn Boris aus dem Georgii aus. Da war zum einen das Schulgeld, das ohne den Vater - er war Ingenieur - nicht zu bewältigen war. Da war in der nackten Austrittsnotiz aber auch von seiner nicht-arischen, russischen Staatsangehörigkeit die Rede.

Verhungert und zu Tode gequält
Erst 1941, nachdem die Deutschen Belgien besetzt hatten, konnte die Familie dem Vater nach Belgien folgen. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden Moisey und sein Sohn Boris im belgischen SS-Lager Breendonk interniert - vermutlich aufgrund ihrer russischen Staatsangehörigkeit. Schwer krank wurde Boris noch ins Lazarett Antwerpen verlegt, starb dort aber am 22. September 1941 um 16.40 Uhr. „Allgemeiner Körperverfall“ beschönigt der Todesschein den Sachverhalt, dass er verhungert und zu Tode gequält worden ist.
„Wir danken dem Verein Denkzeichen, Gunter Demnig für seine Aktion und den Georgii-Schülern für ihr Geschichtsprojekt. Das alles ist für unsere Familie sehr wichtig“, so Boris Neffe Guido Vermeulen. „Es ist die erste Veranstaltung, in der von deutscher Seite Boris gedacht wurde.“ Zwei Stolpersteine erinnern jetzt an Boris Ledermann: einer im Hof seiner alten Schule und einer in der Richard-Hirschmann-Straße.
 
Artikel vom 25.11.2011 © Eßlinger Zeitung

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