Ilija Trojanow

Wenn ein Autor seine Romanfigur verkörpert – Ilija Trojanow vor Schülerinnen und Schülern des Georgii-Gymnasiums

Ilija Trojanow will, wenn er sein neuestes Buch, den Roman „EisTau“ vorstellt, den direkten Blickkontakt mit seinen Hörern. Er will deren Reaktion – ihre Aufnahmebereitschaft, eventuell auch ihre Abwehrhaltung – mitbekommen, wenn nicht gar testen, wohl auch, um seinerseits darauf entsprechend reagieren zu können. Kein Tisch, hinter dem er sich verschanzen, kein Buch, hinter dem er sich verstecken könnte, soll ihn von denen trennen, die er mit seiner Geschichte und seiner Sprache, seiner Erzählwelt und seiner Ausdrucksfähigkeit, insbesondere aber mit seinem Anliegen und seiner bestechenden personalen Präsenz erreichen will. 

So sitzt, häufiger steht er für alle sichtbar vor seinen Zuhörern und trägt, man höre und staune, weite Passagen aus seinem Buch auswendig vor, wortwörtlich und punktgenau, ohne Auslassung und ohne Hinzufügung. Mehr noch, er stellt vor Augen, genauer gesagt, er spielt, indem er die Hauptfigur sprechend verkörpert, mit sparsamen, aber umso genauer treffenden Gesten leibhaftig diesen Zeno aus seinem Roman, den er seinen Zuhörern nahebringen will. Der Dichter wird eins mit seiner Figur, indem er sie in seiner Person auftreten lässt. Das ist ein Experiment, das dem Autor viel abverlangt und dem Zuhörer Literatur in ungeahnter, man darf wohl sagen, ungewohnt hautnaher Weise nahebringt.  

Wer eine so überzeugende Vorstellung geben kann, sein Anliegen so sinnreich zu inszenieren versteht, der gewinnt ein Publikum, wie das in der Aula des Georgii-Gymnasiums versammelte im Handumdrehen. Die Schülerinnen und Schüler der Kursstufe ließen sich vom ersten Wort an in seinen Bann ziehen. Ilija Trojanow fasziniert durch seine Persönlichkeit, reißt mit durch sein Auftreten und gewinnt scheinbar mühelos die Herzen aller für sich und sein Anliegen. Staunen, Bewunderung und höchste Aufmerksamkeit, das bringen seine Hörer diesem Magier der Präsentation der Welt seines Romans mit der lebendig vor Augen tretenden Figur Zenos entgegen. 

Als ein majestätisches Tier, das stets sein Aussehen ändert, ständig in Bewegung ist und wandert, oder auch als eine große Musikanlage, die wunderschöne Klänge von sich gibt und sich in den unterschiedlichsten Tönen vernehmbar macht, so beschreibt Ilija Trojanow das für ihn schönste und verlockendste Naturwunder der Erde, die Gletscher. Die Bilder überzeugen. Sie machen die Mannigfaltigkeit, die Lebendigkeit und die Ausstrahlung anschaulich, die Gletschern eigen ist und bei genauerem Hinsehen und Hinhören erkannt werden können. Was aber, wenn unbestreitbar klar ist, dass alle Gletscher sterben, zwar augenscheinlich langsam, aber doch unaufhaltsam? Das sehen wir in den Alpen, das wissen wir von den Anden, das zeigt sich am dramatischen Rückgang des Eises in der Arktis. Alle diese Naturwunder der Erde aus Eis zerstört der Mensch, indem er sich so verhält, wie es ihm im Augenblick normal und natürlich erscheint. Das genau ist das Problem: dieses Verhalten ist eben nicht normal, d.h. einer allgemein als richtig anzuerkennenden Norm folgend, und auch nicht natürlich, da es die Natur zerstört. 

Ilija Trojanows Romanfigur Zeno, dessen Name schon auf eine Besonderheit verweist, er bedeutet nämlich Geschenk Gottes, genauer, Geschenk des Zeus, verzweifelt fast an dieser Situation. Um seine Erfahrung und sein Schicksal dreht sich die Handlung des Romans. Zeno hat sich sein ganzes Forscherleben einem Alpengletscher gewidmet und mit ansehen müssen, wie dieser durch unzuträgliche Umwelteinflüsse zum Sterben verurteilt war und dann schließlich auch vollständig abgeschmolzen ist. Nach diesem fundamentalen Einschnitt in seinem Leben hat er sowohl beruflich mit seiner Laufbahn als Wissenschaftler wie auch privat mit seiner Familie durch Trennung von seiner Frau und einem Umzug in einen anderen Stadtteil mit seinem bisherigen Leben gebrochen. Mehr noch, er ist Lektor auf einem Kreuzfahrtschiff durch die Antarktis geworden, dabei aber keineswegs skurril oder verschroben, vielmehr sich des selbstzerstörerischen Verhaltens der Menschheit bewusst wie kein anderer in seiner Umgebung. Diesen Zeno verkörpert Ilija Trojanow vor seinen Zuhörern, stellt sich gelegentlich kommentierend neben die Figur und macht klar, dass insbesondere dessen Einsicht, wohl weniger seine den Roman auf die Spitze treibende spektakuläre Tat, die als dringlicher Appell an die Welt gedacht ist, uns alle zur Besinnung bringen soll. 

Die alle Schülerinnen und Schüler beeindruckende und für ihn einnehmende Vorstellung Ilija Trojanows war, zumal er selbst dazu aufforderte, Verlockung zu vielen interessierten Fragen über seine Person, seine Arbeitsweise und sein Werk. Wie schafft es ein Autor, seinen Roman so überzeugend zu präsentieren? Wie gelingt es ihm, den ganzen Roman auswendig parat zu halten? Wie sieht seine Vorgehensweise beim Schreiben aus? Was alles muss er im Vorhinein bedenken? Welche Erfahrungen haben ihn zu diesem Roman veranlasst? Ilija Trojanow widmete sich geduldig allen an ihn gestellten Fragen und gab ausführlich Antwort. Einen Appell an seine Zuhörerschaft enthielt seine Beschreibung, wie er sich seinen Roman angeeignet hat, so dass er ihn nun von vorne bis hinten rezitieren kann. Seine einfache Antwort: Man muss sich jeden Tag hinsetzen und alles Stück für Stück auswendig lernen. Er hat sich einen ganzen Monat lang jeden Tag einen festen Stundenrahmen gesetzt und das durchgehalten; dann hatte er seinen Roman vollständig im Kopf. An die Schülerinnen und Schüler stellte er die Aufforderung, hartnäckig auch gegenüber sich selbst zu sein, sich etwas abzuverlangen und konsequent das selbst gesetzte Ziel zu verfolgen. Das ist wirklich eine Aufforderung, der nachzukommen sich für junge Menschen lohnt. 

Vanesa N.