Interview mit Ilija Trojanow

Große Ideen verändern die Menschen

Herr Trojanow, wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihr Buch „EisTau“ zu schreiben?

Trojanow: In dem Fall – das hatte ich bis dahin noch nie so erlebt – war es ein Traum. Ich habe geträumt, dass ein Mann auf einem Berg sitzt: Da war kein Eis, kein Schnee, sondern nur richtig kahle Landschaft, Moränen. Der Mann irrte einsam und traurig durchs Land. Dann bin ich aufgestanden und habe mich gewundert, was das soll. Das war schließlich ein sehr ungewöhnlicher Traum. Ich habe dann diesen Traum ein bisschen ausgesponnen und habe mir überlegt: Was ist da passiert? Wieso ist er da? Und so kam ich allmählich in die Geschichte hinein. Dann habe ich mir gedacht, dass ich ja überhaupt keine Ahnung von Gletschern und Bergen habe. Also musste ich mit jemandem reden, der davon etwas versteht. Ich habe im Internet nachgeguckt, wer so ein richtig bekannter Fachmann ist. Da gab es einen mit einem tollen Namen: Äberli, wohnhaft in Zürich. Den habe ich angeschrieben und er hat ganz nett gesagt: Ja, kommen Sie vorbei! So habe ich mich dann ein paar Stunden mit ihm unterhalten, und er hat mich sehr bestätigt und mir sehr viele und aufregende Fakten mitgegeben und so ging es dann weiter.  

In Ihrem Buch ist ja eine Wut über die Klimaveränderung zu spüren. Haben Sie da in einer gewissen Weise auch Ihre eigenen Gefühle mit eingearbeitet?  

Trojanow: Es ist ja so, dass die meisten Leute den Fehler machen, zu denken, dass in einem Roman die Figuren in der Weise realitätsbezogen sind, dass der Autor sich irgendjemanden ausdenkt und ihm in den Mund legt, was er als Autor selbst denkt. Aber so stimmt das nicht. Ein guter Roman funktioniert so, dass man sich eine Figur überlegt und dann versucht, diese Figur zum Leben zu erwecken. Das heißt, dass die Figur eigenständig handelt und denkt. Denn wenn man sie immer nur mit seinen eigenen Überlegungen, seinen eigenen Einstellungen füttert, dann bleibt sie blass, bleibt sie flach, eindimensional. Wenn sie ein eigenes Leben entwickelt, dann überrascht sie einen auch manchmal. Man wird natürlich nicht eine Person nehmen, mit der man überhaupt nichts zu tun hat, sondern man nimmt Figuren, die einen interessieren, einen faszinieren. Aber ich sage auch vieles in einem Roman, das ich persönlich nicht sagen würde. Die Tatsache, dass ich über ein Thema ein Buch schreibe, hat schon damit zu tun, dass ich glaube, dass das Thema von einer gewissen Bedeutung ist.  

Warum haben Sie dann einen Roman geschrieben und kein Sachbuch?  

Trojanow: Nun ja, erstens gibt es viele Sachbücher über das Thema. Das Spannende ist, es gibt keinen Mangel an Informationen. Jeder, der sich mal eine Stunde ans Internet setzt, findet genug und darüber hinaus. Das ist zugleich das Tragische: Wie wissen schon unendlich viel und trotzdem tun wir nichts dagegen. Beim Roman ist es das Faszinierende, dass Leute ihn kaufen, weil sie einfach eine gute Geschichte lesen wollen oder weil sie den Autor mögen. So kann man ein ernsthaftes Thema Leuten vermitteln, die nicht unbedingt ein Sachbuch kaufen würden. Beim Sachbuch ist es so, dass das eher Leute kaufen, die schon Interesse an dem Thema haben. Aber das Entscheidende bei politischen oder kolloquischen Themen in einem Roman ist, dass man auch jene Leute erreicht, die nicht schon unbedingt Interesse dafür haben, die nicht schon informiert oder überzeugt sind. Ein gutes Beispiel ist ein Film wie Avatar. Den haben viele Leute gesehen, einfach weil es eine tolle Geschichte ist. Er vermittelt zum Beispiel sehr viel über Toleranz gegenüber Fremden, aber eben indirekt. Das gucken sich dann Leute an, die sonst nur Baller-Filme gucken und werden dadurch beeinflusst, weil es, so sehe ich das, diesen schönen Subtext hat.  

Glauben Sie, dass man durch das Schreiben eines Buches auch tatsächlich etwas verändern kann? 

Trojanow: Die Frage ist: Was verändert den Menschen überhaupt? Der Mensch wird zum einen durch große persönliche Erfahrungen verändert. Das hieße bei diesem Thema aber, dass es zu einer Klimakatastrophe kommen müsste, damit die Leute umdenken. Das Zweite, was Menschen verändert, sind große Ideen. Wenn Sie sich umschauen, gibt es ja überall Ideen, die Menschen besonders überzeugend finden, die sie irgendwann zu ihren eigenen machen, nach denen sie dann auch leben. Ob jetzt Roman, Songtext oder auch ein Film, natürlich verändern diese Dinge einen Menschen. Die ganze Menschheitsgeschichte besteht eigentlich daraus, dass Neues gedacht wurde. Zuerst denken die Leute: Was ist denn das für ein Blödsinn? Und dann Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte später werden diese Gedanken akzeptiert. Es gab Zeiten, da war es selbstverständlich, dass es Sklaverei gibt. Es gab Zeiten, da war es selbstverständlich, dass es Feudalherrschaft gibt, und so weiter und so fort. Die Sklaverei ist ein schönes Beispiel: Als sich in England im 18. Jh. die Abolitionisten organisierten, haben die Leute wirklich gedacht, dass es unmöglich ist, eine Gesellschaft ohne Sklaverei zu organisieren. Wer sollte denn dann die dreckige Arbeit machen? Die herrschenden Verhältnisse haben nahegelegt, dass es so nicht geht. Aber allmählich hat sich die gegenteilige Idee durchgesetzt. Ich weiß nicht, ob man heute viele Leute findet, die für die Wiedereinführung der Sklaverei sind.  

Hatten Sie mit Ihrem Erfolgsroman „Weltensammler“ auch die Absicht, die Menschen auf ein bestimmtes Thema anzusprechen?  

Trojanow: Ich versuche mit jedem Buch, die Menschen in irgendeiner Weise anzusprechen. Ich verfolge aber nie das Ziel, sie in eine bestimmte Richtung zu lenken Es ist nicht so, dass ich sage: Ihr müsst hier raus, den Gang runter und dann links die Treppen runter. Was ich eigentlich beabsichtige ist, dass sie beginnen, darüber nachzudenken. Bei „Weltensammler“ ist dies das Nachdenken darüber, was fremde Kulturen bedeuten. Gibt es wirklich eine solche Mauer zwischen dem Eigenen und dem Fremden? Was bedeutet Heimat? Was bedeutet Herkunft? Inwieweit kann man sich als Mensch kulturell verändern? Inwieweit kann man ein Anderer werden? Das sind natürlich sehr wichtige Themen, vor allem in einer globalisierten Welt, in der wir uns sehr leicht einer gewissen Fremde aussetzen. Auch da hatte ich nicht eine bestimmte Botschaft im Auge, sondern wollte, dass die Leser über diese verschiedenen Themen einfach ein bisschen mehr nachdenken. Natürlich will ich auch, dass sie sich an der Sprache erfreuen und halbwegs gut unterhalten sind. Denn ein gelangweilter Leser wird auch nicht nachdenken. Demnach ist es das Schlimmste, dass ein Leser gelangweilt ist, weil ihm dann auch alles andere langweilig ist.  

Die Fragen zu Heimat und Herkunft, die sie im Zusammenhang mit der globalisierten Welt genannt haben: Inwiefern hat das etwas mit Ihren eigenen Lebensstationen zu tun?  

Trojanow: Das hat natürlich sehr viel damit zu tun, denn wenn man selber Flüchtling ist so wie ich, dann erlebt man die Fremde insofern anders, als man gezwungen ist, sich ihr auszusetzen. Das ist der große Unterschied zwischen einem Touristen und einem Flüchtling: Der Tourist kann, wenn es ihm nicht gefällt, die Schotten dicht machen und sagen: „Nein, dieses Ägypten, schrecklich! Ich bleibe im Swimmingpool und fliege in zwei Wochen nach Hause.“ Als Flüchtling hat man diese Option nicht. Und bei mir war es besonders merkwürdig, da wir zuerst nach Italien geflohen sind, dann nach Deutschland und schließlich hat mein Vater einen Job in Kenia bekommen. Das heißt, ich musste mich innerhalb eines Jahres dreimal völlig umstellen. Und dieses völlige Umstellen heißt, dass du entweder untergehst oder dich anpasst. Es gibt tatsächlich Leute, die daran zugrunde gehen. Zum Beispiel der Sohn meines Freundes. Er war Diplomat, und deswegen sind sie alle drei Jahre umgezogen. Der Sohn ist jetzt in der Psychiatrie, er hat diese völlige Umstellung alle drei Jahre nicht gepackt. Bei mir war es so: Ich dachte, ich muss flexibel sein. Du musst alle drei Jahre eine neue Sprache lernen, einen neuen Sport. In der Schule in Kenia habe ich Kricket und Rugby gespielt. In Deutschland musste ich mich dann mit Fußball und Volleyball zurechtfinden. Es gibt also sehr viele Anpassungen. Das wiederum führt dazu, dass man nachdenkt: Was ist eigentlich fix und was ist dynamisch, was kann verändert werden? Und wenn man so ein Leben hatte wie ich, dann macht man die Erfahrung, dass sich an einem Menschen fast alles verändern kann. Und das ist eine Sache der Notwendigkeit. Zehn Jahren woanders und man wird zu einem anderen Menschen.  

Herr Trojanow, wir danken Ihnen für das Gespräch. 

Tim B., Max I., Linjohn K., Clemens S.

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